25.10.06

Anonymität in der Großstadt

Man stelle sich vor, man sitzt in der Berliner S-Bahn und fühlt sich genervt von Walter Benjamin-Diskussionen von zwei Tagungsteilnehmern, die zur öffentlichen Review der Veranstaltung schreiten. Vielleicht hätte der eine Herr, der zum Beispiel Goebel heissen könnte, vorher ein bisschen sein Namensschild beseitigen sollen, denn die Großstadt ist voll urbanem blogger-totalitarisme, die Privatisierung der Postmoderne ist schon zu weit fortgeschritten, als dass man sich noch leisten könnte, im öffentlichen Raum unbesorgt privat zu reden.

Privatsphäre ist heute ein besonderes Problem. Jemand sagte mir, man ziehe in die Großstadt um nicht ständig von Leuten umgeben zu sein, die einen kennen und beobachten. Wenn also der Drang in die Städte mit dem Wunsch nach Privatsphäre korrespondiert, dann frage ich mich, wie sich in Zukunft die Gewichte weiter verschieben werden durch Technologie. Man denke nur an Digitalfotos, einer lädt seine Bilder hoch und jeder könnte sehen, wer alles bei einer Veranstaltung war. Was heisst da Bild-Privatrazzis, das haben wir doch schon.

Auf dem Weltgipfel in Genf begrüßte das der BBC-Moderator Gowing noch begeistert, gerade im Zusammenhang 'Kriegsberichterstattung' gäbe es ganz neue Möglichkeiten durch diese - in 70er Terminologie - Demokratisierung der Medien. Jeder mit Digitalkamera ist aber auch einer, der Dir ggf. die Privatsphäre einschränkt. Bild-Mann Kai Diekmann soll das nun durch eine Aktion von Bildblog am eigenen Leib spüren. Ich glaube Bildblog hat die aktiveren Leser als sein Butter-und-Brötchen Blatt. Im übrigen finde ich die journalistische Aufregung über die Bild-Fotoaktion, gegen die Bilbblog mit dem Diekmann-Schnappschiessen kontert, übertrieben. Denn da sind wir schon lange daran vorbei gezogen, die Bild hat begrenzten Seitenvorrat für Schnappschüsse, von denen eine Woche später keiner mehr was weiss. Online dagegen liegen keine echten Einschränkungen vor und fast nichts geht verloren. Mal gucken, ob in 100 Jahren, die Urenkel ihren Uropa auf dem Gang zur Arbeit im Überwachungskameraarchiv beobachten können, ich meine: werden.

Das Album mit meinen Urgrosseltern und lauter Leuten in seltsamen Uniformen vor 1920, bei denen ich keine Ahnung habe, ob ich mit denen verwandt bin, sind dagegen Zeichen des Wissensverfalls. Vergessen hat auch seine Vorteile, nicht wahr. Im Zweifel wünschen wir uns aber doch alles zu wissen.